04.07.2025

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Alleinstehende Aristokraten

01.01.1994
Konfuzius hat gesagt, daß ein Mann auf seinen eigenen Füßen stehen sollte, sobald er die Dreißig erreicht hat. Früher legte man das im allgemeinen so aus, daß ein Mann im genannten Alter bereits seine eigene Familie gegründet haben sollte. Andernfalls, dachte man, sei sein Leben unvollkommen. Gemäß dieser Einstellung gehörten Frauen zum Leben der Männer; alleinstehend zu sein, galt als unnatürlich.

Obwohl jüngste Statistiken des Innenministeriums belegen, daß die Mehrheit der Männer und Frauen die Ehe immer noch als notwendiges Kriterium eines erfüllten Lebens betrachten, ändern sich die Einstellungen. Dieser Wandel deutet sich in dem weitverbreiteten Gebrauch eines relativ neuen Ausdrucks an, der einem Romantitel entlehnt wurde: die "alleinstehenden Aristokraten"(單身貴族). Alleinstehende Aristokraten sind gesunde, ausgeglichene und reife Menschen im heiratsfähigen Alter, die dennoch ledig sind. Beatrice Lin(林碧翠)und Daniel Shih(施銘成)sind typische Vertreter dieses neuen Menschenschlags.

Die 39jährige Lin ist geschäftsführende Vizepräsidentin und Teilhaberin von Compass Public Relations. Sie arbeitet seit 1971 in der PR-Branche, die damals in Taiwan noch Neuland war. Nach über zwei Jahrzehnten kündigte sie Anfang 1993 ihre Arbeit bei einer anderen Firma, um in den Vereinigten Staaten an Marketing-Kursen teilzunehmen. "Ich hatte mich zu diesem Schritt entschlossen, weil es einen wachsenden Bedarf an Expertenwissen auf dem PR-Gebiet gibt, und weil das eine Menge Marketing beinhaltet", erläutert sie. Nach ihrer Rückkehr im August fing Lin bei Compass an. Sie selbst hatte einigen Freunden vor Jahren geholfen, die Firma zu gründen.

Die Karriere hat für Lin immer noch Vorrang vor der Ehe. Früher betrachteten Freunde und die Familie ihre Entscheidung als eigenartig, wenn nicht gar als verschroben. "Aber das hat sich geändert", sagt sie. "Manchmal bewundern sie mich sogar. Ich glaube nicht, daß ich so viele Karrieremöglichkeiten nutzen könnte, wenn ich verheiratet wäre." Lin verspürt kein Bedürfnis nach einem Einsiedlerleben; aber weder eine formelle noch eine informelle Heiratsvermittlung kommt für sie in Frage. "Ich lerne Leute lieber spontan kennen", sagt sie. Lin räumt ein, daß sie sich manchmal einsam fühlt, besonders wenn es ihr nicht gut geht oder wenn es Streßphasen bei der Arbeit gibt. Meistens aber genießt sie das Leben als Single.

Eine alleinstehende Aristokratin zu sein, bedeutet nicht, isoliert zu sein. Lin hält engen Kontakt zu ihrer Familie, auch wenn sie in Taipei lebt und ihre Eltern sowie die Familie ihres älteren Bruders weiter südlich in Taichung. Ihre zwei Schwestern sind verheiratet und leben in den Vereinigten Staaten. Obwohl sie das einzige noch unverheiratete Kind ist, drängt ihre Familie sie nicht zur Heirat. "Mein Vater fragt mich nie, ob ich einen Freund habe", sagt sie. Sie glaubt, daß ihre Eltern u.a. deshalb nicht auf einer Heirat bestehen, weil sie so viele unglückliche Ehen gesehen haben.

Alleinstehend zu sein erlaubt es Lin, nach eigenem Gutdünken mit ihrem Geld umzugehen. "Meine Familie braucht keine finanzielle Unterstützung von mir", sagt sie und fügt hinzu, daß sie sich selten um Geldanlagemöglichkeiten kümmert. Zum Beispiel hatte sie ungefähr 40 000 US$ auf einem Bankkonto, das nur geringe Zinsen einbrachte, weil sie das für Fälle akuten Bargeldbedarfs für praktisch hielt. Am Erwerb von Aktien oder Immobilien hatte sie kein Interesse. Dennoch hat sie vorletztes Jahr eine Versicherung für sich abgeschlossen, und ihre Eltern haben ihr Grundbesitz in Taichung vermacht. "Wahrscheinlich werde ich das Land verkaufen und Eigentum in Taipei erwerben, weil es da unten keine Möglichkeiten für meine PR-Geschäfte gibt", sagt sie.

Trotz ihres hektischen Arbeitsalltags findet sie Zeit zur Muße. "Seit meiner College-Zeit singe ich in einem Chor", erzählt sie. Als Atemübung für den Gesang spielt sie auch noch Flöte. Ihre bevorzugten Freizeitaktivitäten aber sind Tennis und Schwimmen. "Viermal in der Woche stehe ich morgens um sechs Uhr auf, um schwimmen zu gehen", sagt sie.

Außerdem macht Lin Gebrauch von ihrem abgeschlossenen Englischstudium und übersetzt englischsprachige Bücher ins Chinesische. "Früher habe ich Liebesromane übersetzt, nur so zum Spaß", erzählt sie. Aber jetzt konzentriert sie sich mehr auf ihren Arbeitsbereich und hat bereits zwei einschlägige Bücher übersetzt. So wie bei anderen alleinstehenden Aristokraten auch, scheint ihre Energie unerschöpflich. Jedes Jahr macht sie zweimal Urlaub im Ausland. "Irgendwann möchte ich Kurzgeschichten über meine Auslandsreisen schreiben, anstatt Bücher nur zu übersetzen. Ich liebe Reisen", sagt sie.

Ein attraktives Äußeres und eine starke Persönlichkeit zu ihrem mit Arbeit, Freizeitaktivitäten und Reisen angefüllten Stundenplan dazugerechnet, lassen es nicht verwunderlich erscheinen, daß Lin Selbstvertrauen ausstrahlt. "Ich habe mir nie Sorgen über mein Leben und meine Zukunft gemacht", sagt sie.

Auch der 35jährige Daniel Shih, Generalmanager von LightRiver Information Systems in Taipei stellt seine Karriere über die Ehe. "Es gibt noch so viel für mich zu tun, bevor es dafür zu spät ist", erklärt er. Er meint, daß es für das Heiraten eigentlich keine Altersbegrenzung gibt, solange man nicht darauf besteht, Kinder zu haben.

Obwohl er ein College-Studium in Ernährungswissenschaften abgeschlossen hat, arbeitete er nach der Ableistung seines zweijährigen Militärdienstes zunächst als Immobilienmakler. "Bei dieser Arbeit habe ich meine Schüchternheit überwunden und einige Marketing-Fähigkeiten erworben", erzählt er. Später wechselte er in die Computerbranche. Nach fünf Jahren Berufserfahrung gründete er 1987 zusammen mit einigen Freunden seine eigene Computeragentur.

Auch wenn Shih einige Versicherungspolicen hat, investiert er doch den Großteil seines Geldes in die Entwicklung der Firma. Er ist ihr Hauptaktionär. Der Firmenumsatz lag 1992 bei fünf Millionen US$, was eine Wachstumsrate von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutete. "Deswegen arbeite ich so hart", sagt er.

Shih's normaler Zwölf-Stunden-Arbeitstag verlängert sich manchmal sogar bis nach Mitternacht. Trotzdem versucht er, ein paarmal in der Woche eine einstündige Pause für Übungen in einem nahegelegenen Fitneßcenter einzulegen, in dem es einen Geräteraum, ein Schwimmbecken und eine Sauna gibt. Er findet, daß sich die 10 000 US$ für die Mitgliedschaft auszahlen, da sie ihm inmitten des hektischen Stadtzentrums von Taipei Zugang zu einem Ort verschaffen, an dem er sich entspannen kann. Shih reist auch ein- oder zweimal im Jahr ins Ausland. "Oft sind es Geschäftsreisen, aber normalerweise bleibe ich ein paar Tage länger, um mir etwas anzusehen", erklärt er.

Shih lebt mit seiner 69jährigen Mutter und einem jüngeren, ebenfalls ledigen Bruder zusammen. Er findet es wichtiger, sich um seine kränkelnde Mutter zu kümmern, als zu heiraten. "Wenn die Eltern alt werden, muß man jederzeit mit ihrem Ableben rechnen. Die Jüngeren sollten sich um sie kümmern, solange sie dazu die Möglichkeit haben", meint er. "Obwohl meine Mutter hofft, daß ich bald heirate, drängt sie mich nicht besonders", fügt er hinzu. "Vielleicht deshalb, weil drei ihrer Kinder bereits verheiratet sind und selbst Kinder haben."

Shih hat seit drei Jahren eine feste Freundin, aber er gibt zu, daß er die Verantwortung, die eine Ehe mit sich bringt, wegen seiner starken Arbeitsbelastung nicht auf sich nehmen möchte. "Ich glaube, sie versteht mich", sagt er. "Wenn ich mich dazu entschiede, Kinder haben zu wollen, würde ich wahrscheinlich versuchen, spätestens mit vierzig verheiratet zu sein. Aber solange ich mir nicht sicher sein kann, daß eine Ehe gut für uns beide wäre, sollten wir vielleicht einfach Freunde bleiben, die sich lieben." Heute noch unterscheidet sich Shih von den meisten seiner College-Kommilitonen - nur fünf von ihnen sind alleinstehende Aristokraten.

(Deutsch von Christian Unverzagt)

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